Ein historisches Literaturprojekt

Erste Besiedlung

Jorge Téllez-Girón und Fernando de Coimbra, der Pilot, standen an der Reling und sahen in Richtung eines dunklen Schattens am Horizont. Vor ein paar Minuten hatte der Mann im Krähennest „Land voraus“ gebrüllt. „Vielleicht ist das gar kein Land“, dachte Jorge und erinnerte sich an dieses merkwürdige Phänomen, dass man Land sieht und, wenn die Sonne noch höher steigt, sich selbiges in Luft oder Wasser auflöst.

Seit fast einem Monat suchten sie schon nach Santa Júlia. Jorge hatte immer wieder die Karte studiert und versuchte eine Position festzulegen. Aber die Angaben von João da Nova mussten falsch sein. Nordwestlich und westlich von Santa Helena, und das hatte sie vier Mal probiert, befindet sich auch nach zwei Tagesreisen keine Insel. Jorge hatte schon den Verdacht, dass vielleicht João ein Geist erschienen sei. Dann nach knappen vier Wochen kreuzten sie nördlich von Santa Helena. Systematisch suchten sie bei Wind und Wetter den Horizont ab.

Inzwischen sahen sie schon mehr als nur einen Schatten am Horizont. Es zeichnete sich deutlich eine Insel ab. Dann sprach der Steuermann ihn und den Piloten Fernando an, „hab Ihr gesehen? Dahinter scheint eine weitere Insel zu liegen.“

Die Männer nicken, „ja, richtig. Es sieht wirklich so aus.“ Die Nao São Martiniano näherte sich bei schönstem Wetter von Westen der Küste.

„Steuermann! Haltet Kurs nach Steuerbord! Auf diese Bucht zu“, rief der Fernando de Coimbra zu. Der leichte Wind stand günstig und die Nao glitt über das Wasser. Santa Júlia kam immer näher. Prüfend sahen sich Jorge und Fernando nach einem Ankerplatz um. Vor ihnen lagen zwei Buchten. Die rechte schien tiefer ins Landesinnere zu führen.

„Da ist ein Fluss in der linken Bucht“, stellte Fernando fest, der wieder durch sein Sehrohr blickte.

„Wir fahren besser nur noch mit dem vorderen Rahsegel, bei dem leichten Wind wird das reichen“, stellte Jorge fest.

„Wollen wir die Insel erst umrunden, Jorge“, fragte Fernando, „sie scheint, nicht so groß zu sein.“ Jorge sah zur Sonne, die schon langsam ihre Kraft verlor und hinter Ihnen stand. Er überlegte laut, „das werden wir heute kaum noch schaffen. Ich würde gerne einen Ankerplatz finden und an Land gehen.“

Die sanften, voll bewaldeten Hügel wurden nur durch ein paar schroffe, dunkle Felsenspitzen in der Inselmitte unterbrochen. An vielen Stellen gab es Sandstrände, die aus einem deutlich dunkleren Sand bestanden, was typisch für Inseln mit vulkanischer Vergangenheit ist. Mehrere Felsformationen trennten die idyllisch aussehenden Strände voneinander.

Die gesamte Mannschaft hatte sich inzwischen an Deck versammelt und blickte gebannt auf die Insel. Es roch schon nach Land. Möwen umkreisten mit ihren gellenden Schreien die Nao. Fernando gab Befehl an die Mannschaft alle Segel, bis auf das vordere, einzuholen. Die São Martiniano glitt jetzt noch langsamer voran, über eine ruhige See unter intensiv blauem Himmel, der von wenigen Wolken geziert war. Jorge und Fernando beobachten die Küste. Die linke Bucht sah zwar schon einladend aus, aber vielleicht würde es noch eine geschütztere Landestelle geben.

„Hinter der Landzunge. Da rechts. Das sieht gut aus“, urteilte Fernando. Jorge nickte und sagte, „das sieht nach einer sehr großen Bucht aus. Steuermann! Mehr Steuerbord. Hinter dem vorspringenden Felsen auf Backbord.“

Das leise Plätschern des Wassers an der Bord wurde plötzlich durch lauter werdendes Murmeln aus den Reihen der Seeleute verdrängt, die auf dem Deck standen und über die backbordseitige Reling sahen.

„Was ist los“, rief Jorge den Männern zu.

Einer antwortete, „da waren Menschen im Wald.“

„Ja! Sie sahen aus wie Wilde mit langen Zähnen und leuchtendroten Augen“, rief ein anderer.

Jorge sah Fernando fragend an, der wiederum abfällig sagte, „Seemannsgarn. Leuchtende Augen. Lange Zähne. Heute Abend beim Portwein werden daraus fliegende Drachen, doppelt so groß wie eine Nao. Jorge, ich habe gar nichts gesehen.“

„Steuermann, achtet auf den Felsen auf Backbord. Haltet Euch mehr in der Mitte der Einfahrt“, befehligte Jorge und zu den Männern rief er, „Tiefe über Grund messen, aber schnell. Zwei Mann vorne, einer hinten. Nach sieben Varas einholen und laut ansagen.“

Aus der Gruppe lösten sich drei Seeleute und verschwanden kurz unter dem Achterkastell, wo eine Kiste stand in der, die Senkbleie aufbewahrt wurden. Anhand der Farbe des Wassers wussten Fernando und Jorge sehr gut, dass es tief genug sein musste, aber so waren die Männer wenigstens beschäftigt. Außerdem waren sie alleine mit dieser Nao unterwegs. Das Auflaufen auf ein Riff würde gefährliche Folgen haben.

Immer wieder warfen die Männer die Senkbleie, an denen einem Seil befestigt war, ein gutes Stück in Fahrtrichtung ins Meer. Das Senkblei, von rund einem halben Arroba Gewicht, sank schnell und zog das Seil in die Tiefe. Die Männer ließen es durch ihre rauen, vom Seewasser feuchten Hände laufen. Bei jedem Vara, was mehr als einer Armlänge entsprach, war ein Knoten ins Seil gemacht worden. Zog das Senkblei beim siebenten Vara immer noch in die Tiefe, kam der Ruf, „nach sieben Varas keinen Grund.“ Dabei zogen sie schon das Senkblei in die Höhe, um es kurz darauf erneut ins Meer zu werfen und die Prozedur begann von neuem. Die beiden anderen meldeten ebenfalls keinen Grund nach sieben Varas.

Das Senkblei konnte man nur bei geringer Fahrt verwenden. Die São Martiniano war, nur noch mit dem ersten Rahsegel recht langsam geworden. Die Männer mussten aufpassen, dass das Blei nicht irgendwo am Grund hängen blieb und abgerissen wurde. Immer wieder hörte man das Klatschen des Senkbleis auf die Wasseroberfläche und dann ein kurzen Glucken, wieder erfolgte der Ruf, „nach sieben Varas keinen Grund.“

So ging es eine ganze Weile, bis Jorge sicher war, dass sich links, an Backbord eine große Bucht auftat, die einen gewissen Schutz vor den Winden des Mittelatlantiks bot.

„Nach sieben Varas keinen Grund“, schallte es vom Bug.

„Steuermann, jetzt halb Backbord“, kommandierte Jorge. Die Nao drehte sich in langsamer Fahrt nach links. Vor ihnen tat sich eine unglaublich große Bucht auf. Man hörte das Raunen der Seeleute Und was sie anfänglich für eine weitere Insel gehalten hatten war der Südseite der Bucht. Die São Martiniano fuhr weiter in die Bucht ein.

„Nach sieben Varas keinen Grund.“

„Jorge, da vorne halb backbord ist auch ein Fluss. Davor wäre ein guten Ankerplatz“, riet Fernando. Der Angesprochene nickte und gab Befehl, „als bald auf Backbord in Richtung des Flusses dahinten, Steuermann!“

„Nach sieben Varas keinen Grund“, kam Meldung von Achtern.

„Passt auf“, schrie Jorge den Seeleuten zu, die immer noch gaffend an der Reling standen. „Wenn wir dort, in der Nähe des Flusses sind, ankern wir! Alles bereit machen!“ Die Mannschaft drehte sich fasst gleichzeitig um und blickten ihren Navigator und Kapitän an. „Und ihr da unten“, rief Jorge ihnen entgegen, „haltet Ausschau nach richtigen Menschen und keinen Seeungeheuern!“ Das leichte Murmeln verging eine kurze Weile später.

„Nach sieben Varas keinen Grund!“

Langsam schob sich die São Martiniano in Richtung ihres geplanten Ankerplatzes.

Im hinteren Teil der riesigen Bucht gab Jorge den Befehl, den Anker fallen zu lassen und das letzte Segel einzuholen. Einer der Seeleute löste ein kurzes Seil, mit dem der Anker an der Bordwand befestigt war. Er klatschte auf die Wasseroberfläche und versank, die Trosse hinter sich herziehend.

Die São Martiniano schob sich noch ein gutes Stück Richtung Küste, als man spüren konnte, wie der Anker Halt auf dem felsigen Grund gefunden hatte, wurde sie ruckartig angehalten. Damit das Schiff nicht auf Land läuft, wenn der Wind sich dreht, holten die Seeleute einen Stück der Trosse wieder ein.

„Nach sieben Varas keinen Grund“, schallte es nochmal vom Bug und Jorge rief, „prima! Gut gemacht, Männer! Bringt die Lote wieder weg.“

Die Sonne senkte sich immer mehr zum westlichen Horizont und langsam begann ein rötliches Farbenspiel in den wenigen Wolken, die noch am Himmel standen.

„Eindrucksvoll“, bemerkte Jorge sich umsehend und fuhr fort, „und zu Ehren des Schutzpatrons Portugals soll diese unglaublich große Bucht Baía do São Vicente heißen.“

Die São Martiniano lag ein gutes Stück vor der Flussmündung. Erst ein paar hundert Jahre später wird man erkennen, dass diese gewaltige Bucht der Krater des erloschenen Vulkans ist. Vor einigen Jahrtausend, beim Abschmelzen der letzten Eiszeitgletscher, hatte sich das steigende Meerwasser durch den flachen Kegel gegraben und den Krater von fast zehn Kilometer Durchmesser mit Wasser gefüllt. Jorges Vorsicht bei der Einfahrt in die Bucht war nicht ganz unbegründet. Es wird in der Geschichte der Insel noch einige Kapitäne geben, die diese Passage nicht so glanzvoll meistern.

Am Abend vermerkte Jorge in seinem Roteiro:

30. Juni 1527 – Wir haben die Insula Santa Júlia wiederentdecket und sind in einer großen Bucht vor Anker gegangen. Sie ist gen Westen zum Meere offen und misst durch die Mitte eine Strecke von trefflichen zwei Legoas. Die Tiefe haben wir gelotet und sie betrug sieben Varas. Dies ist ein guter Ankerplatz, weyl rundherum die Berge hoch aufsteigen und guten Schutz vor Wind und Wetter bieten. Zu Ehren des Heiligen Vicente habe ich die Bucht Baía do São Vicente genannt. Jetzo gab es keinerley Anzeichen von Bewohnern.
Bei Sonnenaufgang werden wir die Insula für Portugal in Besitz nehmen. Über Nacht wurd die Wacht verdoppelt. Es gibet keine besonderen Vorkommnisse an Bord.

Am nächsten Morgen war schon früh geschäftiges Treiben auf dem Schiff zu vernehmen. Jorge hatte nicht besonders gut geschlafen. Er setzte sich auf. Die Kajüte hatte war recht groß, aber bescheiden eingerichtet: Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Regal und ein paar Haken an der Wand. Die São Martiniano war im Vergleich zu der Mafalda, auf der er rund zehn Jahre zu vor unterwegs war, äußerst luxuriös und geräumig. Viele der portugiesischen Schiffe bestanden aus Eichenholz, das in den Wäldern des Baltikums geschlagen worden war. Es wurde über Ost- und Nordsee bis in die Werften bei Porto oder Lissabon transportiert. Hier entstanden dann stattliche Schiffe, wie die São Martiniano.

Jorge zog seine Hosen an, warf sich das Hemd über und ging an Deck. Die Mannschaften hatten eigene Quartiere auf dem Unterdeck und sogar eine Messe im vorderen Kastell. Das Schiff bot schon einigen Luxus. Dass der König ihm, Jorge Téllez-Girón, dem Andalusier, so ein schönes Schiff anvertraute, empfand er immer wieder als Ehre. Nichts war ihm ein sehnlicheres Verlangen, als das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen und nicht zu entäuschen.

Jetzt waren aber alle aufgeregt, ob nicht doch menschenfressende Wilde auf der Insel ihr Unwesen trieben. Jorge hatte das erste Beiboot klarmachen lassen. Die See war immer noch ruhig, der Himmel in ein wunderschönes Blau getaucht und die Sonne erkletterte langsam das Firmament. Es war jetzt schon ziemlich warm und sollte noch heißer werden – so nahe am Äquator.

Jorge hatte vom König den Auftrag erhalten, auf der Insel Santa Júlia ein kleines Fort zu errichten, die umgebenden Gewässer zu erkunden und zu kartographieren, sowie Vorbereitung für eine Besiedlung und landwirtschaftliche Nutzung einzuleiten. Dazu hatte man ihm einige Handwerker und einige Spezialisten mitgegeben.

Die Liste der Besatzungsmitglieder war ein bunter Reigen aus Menschen völlig unterschiedlicher Herkunft. Alle standen sie im Dienste des portugiesischen Königs João III.

Liste der Besatzung der São Martiniano und ihre Herkunft:

Jorge Téllez-Girón - Kapitän - Osuna, Andalusien, Spanien
Fernando de Coimbra - Pilot (Navigator) - Coimbra , Portugal
João Camões - Steuermann - Portalegre, Portugal
Miguel Dias - Bauingenieur - Beja, Portugal
Gaspar da Mota - Mediziner/Arzt - Aveiro, Portugal
Manuel da Encarnação - Priester/Pflanzenkundler – Lissabon, Portugal
Afonso de Caminha - Schreiber/Pflanzenkundler - Lissabon, Portugal
Pêro de Casal - Koch/Bäcker - Aveiro, Portugal
Edzard de Clivia - Schmied - Kleve, Hz. Jülich, Kleve und Berg
Petrus de Frisa - Zimmermann - Jever, Grafschaft Ostfriesland
João Cabeças - Zimmermann - Düsseldorf, Hz. Jül., Kl., Berg
Pedro Vasconcelos - Maurer - Lissabon, Portugal
Ferdinand de Flandria - Maurer - Gent, Flandern
Willem van Souteland - Artillerist - Souteland, Zeelandia
João de Nuremberga - Artillerist - Nürnberg, Freie Reichsstadt
Henrique de Emeda - Artillerist - Emden, Grafschaft Ostfriesland
Rodrigo Castelar - Artillerist - Cadiz, Andalusien, Spanien
und weitere 14 Seeleute und 10 Bauarbeiter

In den Schifflisten finden sich viele Nichtportugiesen. Besonders Artilleristen aus dem deutschsprachigen Raum waren in den Diensten Portugals und Spaniens. Oftmals wurden die Namen und Herkunft kurzer Hand übersetzt, wie im Falle des Peters aus Friesland, der sich in der Schiffsliste findet unter dem Namen Petrus de Frisa.

Während das Beiboot zu Wasser gelassen wurde, sprach Jorge mit Fernando, „hat die Wache irgendwas bemerkt oder gesehen.“

„Nein. Gar nichts. Die Insel scheint wirklich unbewohnt. Dennoch sollten wir vorsichtig sein. Pedro, dort oben“, Fernando zeigte auf das Krähennest, oben am Großmast, „beobachtet schon seit dem Morgengrauen die Küste.“ Pedro bemerkte, dass man über ihn sprach und winkte freundlich herunter. Jorge erwiderte den Gruß und wand sich wieder Fernando zu, „dort rechts mündet ein Fluss ins Meer.“

„Ja, dort sollten wir auch landen. Vielleicht ist das ein guter Platz für unser Fort. Da hätte man jede Menge Frischwasser“, überlegte Fernando laut. Sie beobachteten gemeinsam noch eine gute Weile die Küste und berieten sich über den besten Siedlungsplatz.

Die Wellen plätscherten sacht an den etwas dunkleren Sandstrand der Bucht. Eines der beiden Beiboote der São Martiniano wurde von sechs Männern gerudert. Jorge und Fernando saßen ebenfalls im Boot. Knirschend setze das Beiboot auf dem Strand auf. Die Männer sprangen heraus und wateten, die Arkebusen im Anschlag oder den Degen in der Hand, an Land. Sie beobachteten die Bäume und Büsche, ob sich etwas Verdächtiges tat – doch es blieb alles ruhig.

Jorge rammte eine Stange mit der Flagge des portugiesischen Königs ein paar Meter vom der Wasserlinie in den Sand und sprach laut und feierlich, „hiermit nehme ich für unseren König João den Dritten, König von Portugal diese Insel in Besitz und gebe ihr den Namen Santa Júlia.“

Der ebenfalls anwesende Priester Manuel da Encarnação hob das Kreuz, dass an seinem Hals hing in die Luft und rief, „Gott schütze Portugal. Amen.“ Die Dabeistehenden wiederholten das letzte Wort und waren sich des besonderen Moments durchaus bewusst. Sie hatten eine Insel für Portugal in Besitz genommen und sie waren dabei gewesen. Es erfüllte sie alle mit Stolz.

Noch eine weitere Stunden sahen sie sich in der näheren Umgebung um, doch bis auf eine Vielzahl unterschiedlicher Vögel, konnten sie nichts Auffälliges entdecken. Die Insel schien wirklich unbewohnt. Sie gaben ein Signal an die São Martiniano, dass das zweite Boot jetzt ablegen könnte.

Während das Boot noch unterwegs war, gingen Fernando, Jorge und Miguel Dias, der Bauingenieur zu dem Flusslauf. Der sich, aus dem scheinbar undurchdringlichen Wald kommend, über eine dicht mit Gras bewachsene Ebene und dann ein gutes Stück über den braunen Sandstrand schlängelte. Sie hatte Holzpflöcke mitgebracht. Am Anfang der Grasebene schlug Jorge nach Beratung mit Fernando und Miguel den ersten Pflock in den Boden. Dieser Punkt markierte die Spitze der südöstlichen Bastion des geplanten Forts. Den Bauplan hatten sie aus Portugal mitgebracht. Miguel Dias Aufgabe begann genau in diesem Augenblick – am 1. Juli 1527.

Nachdem das zweite Boot gelandet war, stellte Jorge zwei Erkundungstrupps zusammen, die die Gegend in Augenschein nehmen sollten. Zwei andere ruderten die Boote zurück und holten weitere Seeleute an Land. Jetzt begann deren Bauarbeiterleben.

Als die Sonne im Zenit stand, hatten die Bauleute zwei Unterstände ausfrisch geschlagenen Baumfarnen und mitgebrachten Planen errichtet. So konnte man sich im Schatten etwas ausruhen.

Das Schlagen von Äxten war noch bis in den späten Nachmittag aus dem Wald zu vernehmen. Schon am Abend sah der Platz um den eingeschlagenen Pflock, wie eine Baustelle aus. Gefällte Bäume, abgetrennte Farnzweige und Blätter lagen herum. Aber dennoch wollte keiner über Nacht hier bleiben. Jorge hatte Verständnis dafür, ließ die Werkzeuge verstauen und gerade als die Sonne ihre letzten Strahlen in die Bucht warf, verbreitete sich der Geruch von gegrilltem Hühnchen.

1. Juli 1527 – Mit einer feierlichen Zeremonie haben wir am Morgen die Insula für die portugiesiche Korne in Besitz genommen. Nach gemeinsamer Beratung legte Baumeister Miguel Dias den Platz fest, auf dem die Fortress errichtet werden soll. In hundert Stritt Entfernung fließt ein klarer Fluss vorbei, mit dem Wasser soll bei großer Trockenheit die Zisternen gefüllet werden.

Die Insula scheint unbewohnet. Ich hatte einen acht Mann starken Trupp ausgesandt, um in der Umgebung nach Anzeichen von Ureinwohnern zu suchen. Sie kamen am Abend wieder und berichteten keinerlei Anzeichen gefunden zu haben.

Auf der Insel gibt es ein Huhn, das kaum fähig ist sich in die Lüfte zu erheben und von durchaus herrlichem Geschmack ist, wie unsere Hühner. Sie sind von braunem Gefieder, aber gleich groß mit unseren Hühnern.

Jorge war sich darüber im Klaren, dass er weitere Vorräte und vor allem Haustiere aus Portugal holen müsse. Diese Júlia-Hennen waren ja ganz schmackhaft, aber wenn jeden Tag, jedes Besatzungsmitglied, eines dieser Geschöpfe verspeisen würde, dann müsste man für ein halbes Jahr über siebentausend Hennen erlegen. Jorge konnte sich nicht vorstellen, dass es so viele von diesen Hennen geben würde. Vielleicht könnte man Sie fangen und wie Hühner halten.

Am nächsten Morgen besprach er sich mit Fernando. Auch Fernando war der Meinung, dass es zu einem Problem kommen könnte und hatte eine Idee, „warum bis Portugal zurückfahren, vielleicht bekommen wir Tiere an der afrikanischen Küste. Wenn das Wetter mitspielt, kann eine gute Mannschaft in einem Monat mit ein paar Ziegen und Hühnern wieder hier sein.“

„Das ist eine gute Idee“, fand Jorge und dann beratschlagten sie, wie das Unternehmen zu gestalten war. Sprachen gegenüber den anderen nicht darüber, um keine Panik oder Gerede oder gar eine Meuterei auszulösen.

Vielleicht stellt man sich die Frage, warum Jorge nicht schon Haustiere mitgebracht hatten? Die Antwort ist recht simpel: Obwohl man von einer erfolgreichen Expedition in Lissabon ausging, war doch die Gefahr zu groß, dass die Seeleute die Tiere unterwegs schlachteten. Das Essensangebot auf weiten Reisen war nicht besonders verlockend, wie die Stauliste der São Martiniano verrät:

Auszug aus der Stauliste:

10 Feldschlangen (Kaliber: 3 Polegadas)
400 Schuss Munition (Kaliber: 3 Polegadas)
10 Falkonett (Kaliber: 1 ½ Polegadas)
400 Schuss Munition (Kaliber: 1 ½ Polegadas)
50 Arkebusen mit 2.000 Schuss Munition (Bleikugeln)
Zangenformen für das Bleikugelgießen
20 Fässer Schwarzpulver (je 1 Arroba)
50 Rapiere und Säbel und 20 Hellebarden

4 Toneladas Baumaterial; Balken, Bauholz, Nägel
Werkzeuge (Hammer, Zangen, Äxte, Sägen usw.)
Arzneien
Geschenke (Glasperlen, Spiegel, Schnaps, billigen Wein usw.)

8 Toneladas Schiffszwieback
10 Toneladas Stockfisch (port.: Bacalhau)
1 Tonelada Olivenöl
20 Toneladas Wein
2 Toneladas Mehl
20 Toneladas Weizen
2 Toneladas Sardinen Trauben Knoblauch
13 Toneladas Pökelfleisch
1/2 Tonelada Käse
4 Toneladas Luftgetrocknete Würste und Schinken
5 Toneladas Getrocknetes Obst (Datteln, Äpfel o.ä.)

8 Toneladas Saatweizen

2 Garnituren Ersatzsegel
2 Milhas Taue verschiedener Stärken
2 Toneladas Pech
4 mittlere Fischnetze

Ein großer Teil davon war bereits verbraucht und bevor es zu einem Unglück kommt, wollte Jorge handeln. Frischer Fisch sollte die Probleme lösen und so stellte er abwechselnd drei Männer ab, die frischen Fisch fangen sollten. Am Strand hatte man sich inzwischen eingerichtet. Ein kleines Hüttendorf war unter der Leitung Miguel Dias. Meist bestanden diese Hütten aus halbhohen Seitenwänden und auf Pfählen ruhend Dächern aus Palmenblätterzweigen, die Schutz vor Sonne und Regen boten. Des Nachts brannten Feuer und Wachen patroullierten am Strand und auf der São Martiniano, die fest verankert ein Stück vor der Küste lag.

Mit dem Gedanken, die São Martiniano jemandem anderem anzuvertrauen, war für Jorge jenseits jeder Vorstellungskraft. Schließlich hatte der König ihm, Jorge, das Schiff anvertraut. Fernando kannte sich zwar ein wenig an der afrikanischen Küste aus, aber was ist, wenn etwas passiert. Jorge wäre verantwortlich. Nein, wenn einer mit der São Martiniano die Insel verlässt um Nachschub zu beschaffen, dann er.

„Hast Du gehört“, raunte einer der Seeleute, ein hagerer Kerl mit schwarzem Ziegenbart seinem Bettnachbar zu, „der Spanier will zur afrikanischen Küste aufbrechen um, angeblich Nachschub zu holen.“ Der Angesprochene brummelte etwas vor sich hin und drehte sich zur Seite. Jetzt erhellte der Schein der Fackel an einem der Pfähle das Gesicht des Ziegenbärtigen, „der will sich bestimmt aus dem Staub machen.“ Der andere gab irgendeinen Laut zwischen brummeln, seufzen und grunzen von sich. „Wenn ich es Dir doch sage, den Spaniern ist nicht zu trauen!“ Noch mal ein Brummen, dann eine ruckartige Bewegung auf den Ziegenbärtigen zu. Blanker Stahl blitze im Fackelschein und eine dunkle Stimme mit einem harten Akzent sagte, „schließ Dein lügendes Maul, Pedro. Deine Mauern sollen gerade werden. Jorge war immer gut zu uns. Warum sollte er verschwinden wie ein Dieb.“ Pedro war in dieser Sekunde mehrfach von dem Mann aus dem Rheinland überrascht worden. Die größte Wirkung hatte wohl der blanke Stechbeitel gehabt. Pedro schwieg sofort. Der Rheinländer drehte sich um und schlief sofort ein. Von Pedro , dem geschwätzigen Maurer hatte er nichts zu befürchten.

Jorge saß in dieser Nacht noch lange mit Fernando zusammen. Ihre Hütte lag etwas weiter zum dichten Wald. Zwischen ihnen auf dem einfachen Tisch, umrahmt von ein paar Fackeln lag eine Karte des Golfs von Guinea. Fernando zeigte Jorge gute Ankerplätze und machte Ihn auf die Stadt Elmina aufmerksam. Jorge hatte sich einige Notizen gemacht. Fernando war ein bisschen stolz, dem erfahrenen Piloten Jorge noch einige wertvolle Tipps geben zu können.

Am Nachmittag wurde Jorge von dem Geistlichen Vater Manuel da Encarnação angesprochen, „Jorge, Ihr wißt das heute der Tag des Heiligen Martiniano und des Heiligen Processos ist?“

Jorge antwortete etwas verlegen, „seid mir nicht böse, Vater, aber so gut kenne ich mich nicht in der Heiligengeschichte aus.“

„Das hatte ich angenommen. Eure Fähigkeiten sind ja eher weltlicher Natur. Der Heilige Martiniano und der Heilige Processo waren“, begann Vater Manuel, „Bewacher des Apostel Petrus. Den kennt Ihr aber?“ Jorge nickte. „Petrus konnte die beiden bekehren durch die wunderbare Entstehung einer Quelle aus dem blanken Fels seiner Zelle. Das missfiel dem Präfekten und er ließ die beiden abtrünnigen Römer vor die Statue des Jupiters bringen und dort sollten sie zum Gottvater der Römer beten. Das verweigerten sie und der Präfekt ließ sie mit allerhand Pein foltern. Sie wurden mit Stöcken geschlagen und man setzte ihnen Skorpione auf die nackte Haut. Geduldig ertrugen sie alle Schmerzen und mit einem ‚der Herr sei gepriesen‘ trennte das Schwert ihre Häupter vom Rumpf. Ihre toten Leiber verbrachten noch einige Wunder. So sind sie zu Märtyrern und Heiligen geworden. Und heute ist ihr Gedenktag. Ihr wisst sicher, warum ich Euch auf Martinianus angesprochen habe?“

„Sicher, Vater“, antwortete Jorge, der diese Geschichte nicht kannte und aufmerksam zu gehört hatte, „weil uns die stolze São Martiniano so sicher hierher gebracht hat. Vermute ich.“

„Was haltet Ihr davon, wenn wir ein Kreuz für den Heiligen Martinianus vor der kleinen Festung erreichten und diese auch nach ihm benennen. Er scheint uns ja wohl zu behüten.“

Jorge sah den Vater an. Er hatte sich im Grunde noch gar keine Gedanken über einen Namen für das Fort gemacht, dann antwortete er, „das ist eine vortreffliche Idee. Ich war ein bisschen verlegen um einen passenden Namen – Fort São Martiniano. Das klingt gut.“

Am Abend kam es dann zu einer Zeremonie. Der Zimmermann João, eigentlich Johannes, aus dem Rheinland hatte schnell ein schlankes, mannshohes Kreuz gezimmert. Auf halber Höhe hatte er, auf Jorges Geheiß, ein Brett genagelt. Dort stemmte er mit einem Stecheisen das königliche Wappen ein: Ein weißer Schild umrandet mit einem roten Streifen auf dem sieben Kastelle zu sehen waren. In dem weißen Schild befinden sich in Kreuzform angeordnet fünf kleine blaue Schilde mit je fünf silbernen Münzen.

Während eines Gottesdienstes wurde das Kreuz errichtet und von Vater Manuel eingesegnet. Gleichzeitig weihte er den Grundstein für das Fort. Es war für alle ein solch ergreifender Moment, so dass man bei den gestandenen Seeleuten und Handwerkern sogar die ein oder andere Träne sah.

Tage später war sich Jorge sicher, dass er zu einer Reise an die afrikanischen Küste aufbrechen würde. Bis dahin würden aber noch ein oder zwei Wochen vergehen. Und er war sich sicher, dass er Fernando mitnehmen wollte. Für ihn war es sinnvoller einen erfahrenen Navigator bei sich zu wissen. Den Oberbefehl auf Santa Júlia sollte der Bauingenieur Miguel Dias übernehmen. Jorge hatte sich den Schritt lange überlegt, er war selbst ein guter Pilot, aber kannte sich nicht an der afrikanischen Küste aus. Das war ein Dilemma, aber eigentlich könnte anhand der hervorragenden Karten navigieren. Doch erfolgreicher und vor allem schneller schien es, wenn sie beide den Weg auf sich nehmen würden.

Im Wald unweit des Forts hatte man eine gute Stelle für einen kleinen Steinbruch gefunden. Nun dran das Klimpern der Hämmer und Meißel aus dem Wald. Am Abend, die Sonne ging meist um die sechste Stunde sehr schnell unter, saßen die gesamte Mannschaft zusammen an einer provisorischen Tafel und speisten. Da erhob sich Jorge und klopfte mit seinem leeren Weinkrug auf den Tisch, „Männer! Wie Ihr selber sehr, reicht das mitgebrachte Baumaterial nicht aus. Ich habe mich entschlossen mit Fernando und einer kleinen Mannschaft an die afrikanische Küste zu segeln. In Elmina einem Ort, der dem einen oder anderen bekannt sein dürfte, hoffen wir die notwendigen Waren zu bekommen.“ Jorge machte ein Pause und wollte die Stimmung einfangen. Ein leises Raunen ging durch die Mannschaft und er hatte für sich das Gefühl gewonnen, alle Zweifel aus der Welt zu schaffen, „ich weiß, dass es unter Euch ein paar gibt, die meinen, ich wollte mich aus dem Staub machen. Weil es hier kein Gold oder Silber geben würde.“ Wieder eine Pause, es war still und ein paar Zikaden zirpen am Waldesrand, „wir sind nicht wegen Gold und Silber hier. Unser edler König João von Portugal hat mich, Jorge aus Spanien, beauftragt hier, auf dieser Insel eine Festung zu erbauen. Und ich habe nicht vor meinen geliebten König zu enttäuschen! Und ich bin mi9r sicher, Ihr wollt König João auch nicht enttäuschen?“ Stille, dann die erste, die ein Hoch auf Portugal ausbrachten, die anderen Männer stimmten ein. Als wieder ein bisschen Ruhe eingekehrt war, legte Jorge nach, „man wird aufmerksam meinen Bericht lesen, den ich als Pilot jeden Tag verfasse. Gestern habe ich hier eingetragen“, er hielt eine Kladde in die Höhe, „ich bin stolz, wie fleißig und beflissen die Männer ihr Tagwerk verrichten. Die Form des Forts São Martiniano ist schon mit Messpfählen markiert. Die Baumaterialien wurden schneller verbaut als angenommen.“ Wieder ertönten Hurra- und Hochrufe auf den König auf Jorge. Das war die Stimmung, die Jorge schaffen wollte. Niemand würde ihm mehr unterstellen, er wolle sich absetzen.

Ein kleiner Expeditionstrupp hatte tagelang die Insel umrundet und schon grob kartographiert. Als die Männer wiederkamen standen sie zum Rapport unter einem der Sonnensegel. Voller Neugier hatte sich die restliche Mannschaft versammelt und hörte gespannt zu, ob sie nicht auf Wilde getroffen waren. Statt fürchterlicher Geschichten berichtet der Steuermann João, der die Gruppe angeführt hatte, nur ganz sachlich von seinen Eindrücken, „die Bergspitzen, die man von hier aussieht sind die einzigen großen Erhebungen. Die Spitze hier gerade durch“, Miguel wies mit der Hand über den Fluss zu einer entfernen Felsformation, „scheint die Höchste zu sein. Im äußersten Nordosten gibt es noch zwei hohe Felsen, die sich sehr ähnlich sehen. Aber das Wichtigste ist …“ Miguel legte eine Pause ein, die Männer waren völlig still, „dass dies nicht die einzige Insel ist.“ Ein Gemurmel setze ein. Jorge blickte erfreut, aber auch fassungslos. Nicht, dass er auf der falschen Insel die Festung erbaute und fragte mit leicht nervöser Stimme, „ist die andere Insel den größer?“

„Eine“, antworte der Steuermann João, „wir haben eine direkte Nachbarinsel im Osten und weiter hinten lang noch eine Insel. Und im Nordosten schien auch eine Insel zu liegen. Mehr konnten wir nicht sehen. Im Norden ist Santa Júlia etwas felsiger, aber auch mit Sandstränden, wie hier. Im Westen, in der Bucht, auf die wir erst zu gelaufen sind, ist ein sehr langer Fluss. Erscheint, da an der westlichen Felsenspitze zu entspringen.“

„Und was ist hier gegenüber der Bucht“, fragte Fernando interessiert.

„Das ist eine sehr lange, nicht sehr breite Landzunge.“

„Nun die wichtigste Frage. Aber da Du nichts erwähnt hast, wirst Du sie wohl beantworten können“, sagte Vater Manuel bedächtig, „hast Du denn Bewohner des Eilandes gefunden.“

João schüttelte den Kopf, „nur diese Hühner und jede Menge anderes unbekanntes Getier und Gewürm. Keine Wilden. Auch keinerlei Spuren. Wir sind hier wohl alleine.“

Jorge nickte und bat João mit ihm in den nächsten Tagen einen Bericht für das Roteiro zu schreiben. Er solle aber gleich die Form der Insel aufmalen.

Irgendwann in den nächsten Tagen liefen Jorge und Fernando am späten Nachmittag am Strand entlang. Jorge hatte Fernando diesen Spaziergang vorgeschlagen um ihn in seinem neuen Plan einzuweihen, „Joãos Bericht über die anderen Inseln hat mich auf eine Idee gebracht.“

„Das habe ich Dir angesehen, Jorge.“

„Wir nutzen den Vorwand die Inseln zu erkunden und zu zeichnen. Das man auf einer Insel mal landet und das alles etwas länger dauern kann, wird jeder einsehen. Stattdessen fahren wir zur afrikanischen“, abrupt hatte Jorge geendet, ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.

„Du hast immer noch Angst vor einer Meuterei. Du würdest sie hier sitzen lassen. Ist es das?“

„Ja“, antwortete Jorge, „aber ich möchte ihnen lieber das wirkliche Problem der bald verbrauchten Nahrung klar machen. Die Fische werden den Männern auch mal zu Hals raushängen. Und siebentausend von den Hennen in einem halben Jahr, werden auf der Insel nicht zu fangen sein. Es laufen schon jetzt kaum noch welche herum. Der Jagdtrupp zieht jedes Mal tiefer in den Wald.“

„Im Moment läuft es ja gut. Sie vertrauen Dir. Vielleicht kann Bruder Manuel noch helfen“, fügte Fernando an.

„Das wird das Beste sein“, sagte Jorge.

Sie liefen ein Stück wortlos nebeneinander über den Strand. Die Sonne senkte sich über dem Westen in den Atlantik.

„Santa Júlia ist ein schönes Fleckchen Land. Es erinnert mich an Teneriffa“, sagte Fernando.

„Warum an Teneriffa?“

„Dort bin ich geboren.“

„Kommst Du nicht aus Coimbra“, fragte Jorge.

„Mein Vater ist Spanier und meine Mutter ist Guanche. Er ist als hoher Offizier mit Alonso Fernandez de Lugo nach Teneriffa gekommen. Direkt in der Schlacht von Acentejo wurde er gefangengenommen. In seiner Gefangenschaft verliebte er sich in die Tochter eines Häuptlings. Naja, sie wurde dann schwanger und dann nahm das Schicksal seinen Lauf. In der letzten Schlacht wurden viele Guanchen getötet oder versklavt. Als mein Vater wieder zu seiner Truppe zurückkam, behauptete er, er habe meine Mutter als Sklavin gekauft und sie wäre sein Eigentum. Das schütze sie vor den Soldaten. Dann sind sie nach San Cristóbal de La Laguna gegangen, kurz nachdem die Stadt gegründet wurde – man brauchte Verwaltungsbeamte. Und dann kam ich auf die Welt. Als ich zehn war starb meine Mutter. Mein Vater verließ Teneriffa und ich wurde zur Schwester meines Vaters in Coimbra gebracht. Er selbst zog nach Italien. Irgendwo bei einer Belagerung ist er ums Leben gekommen“, berichtet Fernando.

„Bei welcher Belagerung? Ich war selbst als junger Mann in Italien. Ich musste Ravenna miterleben und das Gemetzel von Prato.“

Fernando wurde ganz ruhig, „Prato. Das könnte es gewesen sein.“

„Wie hieß denn Dein Vater?“

„Lope de Manrique.“

Jetzt war Jorge ganz still und wiederholte, „Lope de Manrique.“

„Ja“, sagte Fernando.

„Das war mein Herr. Ich hatte ihm gedient. Ich war sein Adjutant. Nur für wenige Wochen. Und ich habe ihn auch gefunden. In den Gassen von Prato. Oh Gott! Es war furchtbar“, stammelte Jorge, fast ängstlich.

„Du kanntest meinen Vater“, fragte Fernando.

„Das ist ein Zufall. Er war ein sehr guter Herr. Am Tag der Erstürmung vertrieben wir uns die Zeit mit Würfeln. Ein Freund war dabei, Álvar. Wir waren sehr betrunken. Dann den Knall von der Mine unter dem Stadttor. Ich weiß nicht mehr viel. Als ich wieder zu mir kam war ich in der Stadtmitte. Ich lief weg und dabei fand ich ihn.“

„Wie starb er?“

„Ganz leise und ganz in Frieden. Er sagte immer so etwas wie ‚Chaxi‘“, grübelte Jorge.

„Das war der Spitzname meiner Mutter.“

Fernando hielt an und setze sich in den Sand.

„Ich hätte nie gedacht“, begann Fernando, „dass ich jemals etwas über seinen Tod herausbekommen würde. Damals kam ein Brief, dass er heroisch im Kampf gegen die Franzosen sein Leben gelassen hätte.“

„Krieg – und vor allem der italienische Krieg – war niemals heroisch“, sagte Jorge, „es war feige und pure Rache. Aber wir waren damals mittendrin. Ich habe Nächte lang wachgelegen und mich gefragt, wenn ich alles getötet hatte. Mein Rapier war Blut verschmiert. Ich werde es wohl benutzt haben. Wir waren fürchterlich betrunken – nur so kann man so was aushalten. Ich schäme mich dafür. Damals traf ich für mich die Entscheidung, zur See zu gehen. Diesen Entschluss habe ich nie bereut. Und selbst heute nicht. Es kann kein Zufall sein, dass ich mit Dir hier sitze.“

Fernando nickte Jorge zu, „das kann wirklich kein Zufall sein. Ich glaube, dass mein Vater damals ganz bewusst nach Italien gezogen war. Er wollte nicht mehr leben. Meine Tante hatte mir seine Briefe aus Italien gezeigt. So traurig waren seine Worte. Er war so einsam.“

„Stimmt. Er schrieb sehr viel. Oft habe ich Brief für ihn zu einer Stelle gebracht, wo sie gesammelt wurden“, dachte Jorge laut.

Sie saßen noch eine Weile zusammen. Die Wellen plätscherten an den Strand und die Sonne berührte glutrot den Horizont. Es roch nach gegrilltem Hühnchenfleisch. Sie sprachen an diesem Abend nur noch wenige Sätze miteinander.

Zwei Wochen später stachen Jorge und Fernando mit einer sehr kleinen Mannschaft in See in Richtung Afrika.


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Eingestellt: 25.07.2014
Geändert: 13.01.2016
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