Ein historisches Literaturprojekt

Wie gewonnen ...

Am 2. September 1601 fand ein wenig aufsehenerregender Prozess in der Casa da Índia in Lissabon statt. Angeklagt war der Zahlmeister Manuel de Sequeira aus dem Fort São Martiniano auf Santa Júlia.

In dem kargen Raum saßen an einem breiten Tisch drei Männer. Der Mittlere war der Richter Alfonso de Almada. Ganz links der Ankläger für die Casa da Índia Duarte Pereira und rechts ein Schriftführer, dessen Name während des Prozesses nie erwähnt wurde. Ihnen gegenüber hatte Manuel de Sequeira Platz genommen. Die Tür in seinem Rücken war flankiert von zwei Soldaten. Und da war noch eine Person im Raum, die an Fenster lehnte und nun auch dem Richter de Almada auffiel, „und wer seid ihr, Senhor?“

Der Mann richtete sich auf und wandte sich dem Richter zu, „mein Name ist Paolo Barros. Ich bin Kapitän und Navigator des portugiesischen Königs und viel im Auftrag der Casa unterwegs gewesen – auch zur Insel Santa Júlia. Ich kenne den Angeklagten und werde ihn verteidigen.“

„Das sehen die Regeln dieses Gerichts nicht vor“, sagte Pereira scharf.

„Da irrt ihr, Senhor Ankläger. Die Statuten dieser Gerichtsbarkeit schließen die allgemeinen Regeln der portugiesischen Gerichtsbarkeit ein. Und das wisst Ihr.“

Pereira, der sich im Innersten einen kurzen Prozess, im wahrsten Sinne des Wortes erhofft hatte, wusste, dass es damit jetzt vorbei war. Der Angeklagte Sequeira war inzwischen so eingeschüchtert, dass er alles zugeben würde, was verlangt wurde.

Der Richter de Almada nickte und sagte mit ruhiger Stimme, „das ist richtig. Angeklagter, möchtet Ihr, dass Euch der ehrenwerte Paolo Barros verteidigt?“

Zusammengefallen auf seinem Stuhl nickte Manuel zaghaft und musterte den Fremden vorsichtig.

„Dann beginne ich jetzt mit der Verlesung der Anklage.“

Man hörte, während de Almada die Schrift verlas, wie die Feder des Schreibers über das Papier kratzte. Immer wieder kurz unterbrochen von einem leisen Tapp-Laut, hervorgerufen durch die Feder, die auf dem Grund des Tintenfass aufsetzte.

„… und somit beschuldigt Euch die Casa da Índia, vertreten durch den ehrenwerten Senhor Duarte Pereira, Euch widerrechtlich am dritten März diesen Jahres von der Truppe entfernt, das Fort São Martiniano und seine Güter dem Feind überlassen und selbst Euch mit Feigheit davon gemacht zu haben. Diese schweren Vergehen werden als Hochverrat an der portugiesischen Krone betrachtet.“

Eisige Pause.

„Seht Ihr Eure Schuld ein, Angeklagter.“

Noch bevor Manuel antworten konnte, sprach Paolo Barros, „der Angeklagte sieht seine Schuld nicht ein und fordert seinerseits Entschädigung von der Casa da Índia, weil …“

Der Ankläger Pereira pfiff durch die Zähne.

„… weil ohne den Einsatz des Angeklagten ein weiteres Schiff der portugiesischen Flotte samt Mannschaft und Ausrüstung den holländischen Truppen in die Hände gefallen wäre. Die Höhe der Entschädigung werden wir noch nennen.“

„Das ist“, der in der Mitte sitzende Richter de Almada legte seine rechte Hand auf den Arm Pereiras, der wiederum sofort verstummte.

„Wie kommt Ihr darauf", fragte der Richter.

„Der Angeklagte soll erst aus seiner Sicht den Verlauf an diesem dritten März schildern“, schlug Barros vor.

De Almada nickte und erteilte Manuel de Sequeira das Wort, sehr zum Missfallen des Anklägers Pereiras.

„Ich weiß ... gar nicht  ... wo ich anfangen soll.“ Er überlegte kurz. „Am Vormittag ... machte ich meine regelmäßige Inventur ... durch die Lagerräume, als ich von der seeseitigen Mauer einen Tumult und einige Schüsse aus Arkebusen vernehmen konnte. ... Ich lief in den Innenhof. Plötzlich ein heftiger Donner, dann ein Pfeifen und schließlich  eine Explosion vor der Seemauer. Dann folgten weiteren Schüsse aus Mörsern. Das Geräusch ist sehr eindeutig ... vor allem das Pfeifen vor dem Aufschlag.“

Manuel Rede war anfänglich eher holprig, jetzt schien er sich gefangen zu haben. Im Raum war es still. Von draußen konnte man die hungrigen Schreie der Möwen von Tejo hören und das ewige Hämmern der Werftarbeiter.

„Ich rannte ebenfalls auf die Mauer. In die Bucht São Vincente fuhren zwei recht große Schiffe mit nur wenigen gesetzten Segel ein. Jedes hatte eine riesige orange-weiß-blauen Flagge gehisst. Die Schiffe hatten keine Kastelle und die Mörser, die die Schüsse abgegeben hatten, standen wohl auf Deck. Unser Kommandant gab Kommando, das Feuer zu erwidern. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis die Artilleriemannschaft bei den Feldschlangen waren.“

„Wieso“, fragte Richter de Almada dazwischen.

Manuel stotterte die ersten Worte und rang schon um eine Entschuldigung, „am vorherigen Abend … es war eine sehr ausgelassene Stimmung … wie soll ich sagen …“

„Die Artilleriemannschaft war immer noch hoffnungslos betrunken“, sprach Paolo, „die Männer hatten den Geburtstag eines Kameraden gefeiert.“

„Ihr auch?“

„Nein, Senhor. Die Artilleristen sind ja immer eine verschworene Mannschaft. Und sprechen auch immer nur in ihrer Sprache“, entschuldigte sich Manuel vor dem Richter, der ein verständnisloses Gesicht aufsetzte.

Manuel erklärte, „die Artilleristen sind oft Söldner und kommen aus den Städten, wo die Kanonen gebaut wurden, aus Bayern oder Flandern."

Der Richter nickte und der Blick der Verständnislosigkeit wich einer Ahnung und schließlich einem Begreifen. Er blickte zum Ankläger, der stumm nickend den Sachverhalt zu bestätigen schien. Der Verteidiger Paolo Barros fügte hinzu, „es ist günstiger gleich die Geschütze mit der Bedienmannschaft anzuwerben."

Almada sagte, „fahrt fort, Angeklagter de Sequeira.“

„Die nächsten zwei oder drei Mörsersalven waren zum Teil schon in das Festungswerk eingeschlagen. Dann war die erste Feldschlange zum Feuern bereit. Sie krachte los und wenige Schritte vor dem Holländer spritzte eine Wasserfontäne in die Luft. Der nächste Schuss ging ebenfalls vor den Bug des Schiffes. Auf Kommando drehten beide Schiffe nach Steuerbord und holten weitere Segel ein. Wir sahen jetzt auf die Breitseiten der Schiffe. Unsere Kanoniere luden, schossen und trafen auch hin und wieder. Doch dann …“

Manuel de Sequeira schluckte. Der Richter goss Wasser aus der dickwandigen Glaskaraffe, die vor ihm stand, in ein Glas und hielt es Manuel hin. Paolo Barros trat vor, nahm das Glas und reichte es Manuel, der dann hastig ein paar Schlucke nahm.

„Dann sah ich aus allen Geschützen Feuer auflodern und dann einen gewaltiges Krachen. Ich fiel auf den Boden und dann fühlte ich ein Grollen im Boden und ein ohrenbetäubendes Krachen um mich herum. Den Helm, den ich bevor ich auf die Mauer gestiegen war, aufgesetzt hatte hielt ich fest auf den Kopf gepresst. Als nur noch kleinere Brocken und Splitter auf mich niederprasselten, blickte ich auf.“

Manuel nahm noch einen Schluck aus dem Glas, dass es mit beiden Händen hielt. Der Schreiber hatte seinen Satz zu Ende geschrieben, tauchte die Feder ins Tintenfass und blickte zu Manuel de Sequeira.

„Neben mir lag der der Kommandant. Eigentlich lag da nur noch ein Torso, der die Uniform des Kommandanten trug. Sein Kopf war weg. Die Breitseite hatte die Südwestbastion schwer verwüstet. Die Kanoniere lagen verstreut umher. Ich hörte das Jammern einiger Verletzten.“

Manuel holte Luft. Der Richter beobachtete die Wachen, die gespannt den Ausführungen lauschten. Der Ankläger Duarte Pereira sah ebenfalls gebannt auf den Angeklagten, der dann fort fuhr, „ich sah hinter mich. Es waren auch Treffer an den Gebäuden im Hof. Aus einer der Stallungen, die in der Festungsmauer eingelassen war, stieg Rauch und man konnte die Pferde wiehern hören. Das kleinere der holländischen Schiffe drehte wieder nach Backbord und fuhr, wieder im Wind langsam auf das Fort zu.“

„Und jetzt schoss unsere Artillerie“, fragte Duarte Pereira.

„Die Kanoniere, also die, die noch lebten, drehten die Kanonen der Südostbastion, schienen aber Schwierigkeiten zu haben. An der Lafette war ein Rad gebrochen. Ja und dann gab es noch einen großen Knall von der nordwestlichen Bastion – ein Rohrkrepierer. Die Feldschlange war geborsten und ich sah niemanden dort mehr auf den Beinen. Ich bin mir nicht sicher, ob das einer überlebt hat.“

„Was war mit dem holländischen Schiff?“

„Das Schiff kam immer näher, Herr Richter. Als die Kanoniere die Kanonen endlich auf das Schiff ausgerichtet hatten, krachten sehr viele Arkebusenschüsse los. Die fielen alle um. Auf dem Holländer standen eine lange Reihe Musketiere und feuerten auf uns. Ja und dann kamen die Boote.“

„Noch mehr Schiffe“, fragte der Richter.

„Nein. Beiboote hinter dem Schiff tauchten drei Beiboote auf und ruderten vollbesetzt an Land. Ein paar Musketiere von uns, also welche, die noch eine Muskete halten konnten schossen. Da sank auch der ein oder andere Holländer in sich zusammen, aber sie hatten sehr schnell das Ufer erreicht und um die Südostbastion herumgelaufen. Die kannten wohl den Weg.“

„Und“, fragte der Richter.

„Ich bin dann herabgestiegen und schnell ins Kontor gelaufen. Ich nahm schnell die wichtigsten Papiere und einen kleinen Sack mit Gold-Real aus der Geldtruhe. Ich habe eine Aufstellung. Es fehlt nichts aus dem Sack.“

„Schon gut, das glaube ich Euch. Wie ging es weiter?“

„… und dann trat wieder auf den Hof. Ich hörte das Schlagen von Äxten am Tor, ich wollte in eines der Seitengebäude. Dann ein Krachen am Tor. Ich rannte zu diesem Gebäude. In den hinteren Räumen, unter der Mauer, gibt es einen geheimen Ausgang, der gut getarnt ist. Ein schmaler Gang führt zu einer kleinen Tür, die geschützt hinter Büschen liegt. Ich zwängte mich durch den schmalen und niedrigen Gang. Draußen angekommen, lief ich in den Wald und dann in Richtung der Baía do São Jorge an der Westküste.“

„Also für mich hört sich das nicht nach Hochverrat an, lieber Duarte Pereira“, stellte der Richter fest.

Pereira sagte nur, „und wieso seid ihr geflüchtet und gab es noch Überlebende und habt ihr Euch um Eure Kameraden nicht gekümmert?“

„Verzeiht, Senhor Pereira, aber es lagen überall Kameraden herum … und der ärztlichen Kunst bin ich nicht mächtig … und für die Sakramente bin ich zu unerfahren in diesen Dingen.“

„Was habt Ihr nach der Flucht getan“, fragte Richter de Almada.

„Ich versteckte mich …und nach ein paar Stunden fiel mir ein, dass das Versorgungsschiff in den nächsten Tagen kommen müsste. Bei gutem Wetter kam es auch schon mal ein paar Tage früher. Wir freuten uns immer auf das Schiff. Mit ihm kam Post aus Portugal - das war immer ein bisschen Abwechslung. Ich ging dann im Schutze des Waldes bis zum Ufer und als ob ich es geahnt hätte, da kam ein Schiff. Beim Näherkommen war es klar, das war die portugiesische Flagge am Hauptmast. Ich stieg auf einen Felsen, dort wo mich die auf gar keinen Fall Holländer nicht sehen konnten und …“

„… winkte und ruderte mit den Armen und tat alles um auf sich aufmerksam zu machen“, unterbrach Paolo Barros, „ich konnte Ihn durch das Sehrohr gut erkennen und gab Befehl die Segel zu reffen und die Fahrt zu verlangsamen. Man sah auch hinter dem Wald Rauch aufsteigen.“

„Ihr“, fragte Ankläger Pereira. Und ein ebenso erstauntes Gesicht machte Richter de Almada.

„Mein Leben und das meiner Mannschaft hat er gerettet. Wir ließen ein Boot zu Wasser und holten ihn an Bord. Er war ziemlich benommen und stammelte nur was von Holländern, Breitseiten und einem Rohrkrepierern. Wir waren unschlüssig was wir machen sollten und entschlossen uns dann, unter vollen Segeln an dem Eingang zu Baía do São Vincente vorbei zu segeln und einen Blick zu riskieren. Falls wir etwas sehen würden, was Gefahr bedeutete wollten wir umdrehen. Die Mannschaft war auf eine scharfe Wende vorbereitet und wir führten unseren Plan durch. Tatsächlich, als wir das Fort sahen, konnte man die Beschädigungen erahnen. Davor lagen zwei niederländische Schiffe mit gerefften Segeln.“

„Warum habt Ihr nicht angegriffen“, fragte Duarte Pereira provozierend.

„Weil ich eine kleine altersschwache Nao befehligte mit vier Falkonetten auf jeder Seite, einer Mannschaft, die das Saufen und Raufen besser verstand, als das Laden von Geschützen.“

Der Richter blickte erstaunt.

„Und weil dort zwei holländische Schiffe lagen. Ihr habt nicht zugehört – de Sequeira hatte gesagt, dass die Mörser nicht auf Kastellen standen. Die Schiffe hatten keine Kastelle. Und bei einem Schiff dieser Größenordnung, war mir klar, dass die erste Breitseite uns den Garaus machen würde. So wie dem Fort.“

Wieder nickte der Richter nur. Paolo Barros hatte den Eindruck, dass der Prozess gelaufen war und fuhr aber dennoch fort mit seiner Erzählung, „wir haben dann sofort die Halse durchgeführt. Maria sei Dank, dass der Wind günstig stand. Wir machten gute Fahrt. Manuel de Sequeira lag unter Deck. Mein Navigator versorgte ihn. Ich selbst befehligte das Schiff und wir machten gute Fahrt. Ich muss dennoch gestehen, dass ich öfters mit meinem Sehrohr nach Achtern blickte und den Horizont ängstlich nach ein oder zwei Schiffen ohne Kastelle absuchte. Wir hatten Glück, so wie uns Manuel Glück brachte. Von Verrat oder Feigheit kann wohl keine Rede sein.“

Jetzt herrschte Schweigen im Raum. Mit einer gewissen Verzögerung hörte auch bei dem Schreiber das Federkratzen auf. Dieser blickte auf und sah in die nachdenklichen Gesichter an seinem Tisch. Manuel de Sequeira sah auf den Boden. Die Wachen mimten Desinteresse und Paolo blickte die drei Männer am Tisch an. Das Klopfen aus der nahegelegenen Werft war wieder zu hören und die Möwenschreie drangen wieder ans Ohr.

Dann hörte man wie Richter de Almada tief einatmete und sagte, „ich sehe das die Vorwürfe gegen Manuel de Sequeira entkräftet und durch eine Zeugenaussage bestätigt wurden. Somit entscheide ich Kraft meines Amtes im Namen des Königs von Spanien und Portugal, dass Manuel de Sequeira von dem Verdacht dem unerlaubten Entfernen von der Truppe, dem Überlassen des Fort São Martiniano und seine Güter dem Feind und der Feigheit, freigesprochen wird.“

De Almada ärgerte sich über die erzwungene Formulierung mit dem spanischen und portugiesischen König. Seit 1580 war der spanische König auch König von Portugal. Spanien behandelte Portugal wie eine verarmte Westprovinz. Dieses Unglück, so empfanden es viele Portugiesen, hatte man dem verrückten und kinderlosen König Sebastião zu verdanken und der inzestuösen Heiratspolitik seiner Vorgänger. Aber das ist eine anderer, ebenso interessante Geschichte.

De Almada machte eine Pause, Pereira packte seine Dokumente zusammen, der Schreiber kritzelte auf das Papier.

„Ihm wird“, fuhr der Richter fort, „die Zeit im Gefängnis mit doppeltem Sold beglichen ...“

Pereira guckte ungläubig.

„… und ihm eine Anstellung in der Casa da Índia angeboten. Zu Letzterem soll er mich in den nächsten Tagen hier aufsuchen. Der Prozess gegen Manuel de Sequeira ist hiermit beendet.“

Manuel guckte Paolo und dann den Richter ungläubig an. De Almada erhob sich und dem Ankläger Pereira stand immer noch die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Von einem De Facto-Todesurteil zu einem Freispruch mit Entschädigung in einer guten Stunde, das war dem Ankläger auch noch nicht untergekommen – und dem Schreiber ebenso, der die letzten Worte des Urteil festhielt.

Manuel wurde tatsächlich in den nächsten Tagen bei Richter de Almada vorstellig. Wenige Tage später begann er als Buchhalter in der Casa da Índia. Er erlebte noch, als 1640 Portugal wieder von der spanischen Krone lossagen konnte und eigenständig wurde. Unterstützt von dem französischen Kardinal Richelieu wird João IV. der neue König von Portugal. Im selben Jahr erbt Friedrich Wilhelm, der spätere „Große Kurfürst“, das Amt von seinem Vater.

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