Ein historisches Literaturprojekt

Jorge Téllez-Girón

Die erste Besiedlung von Santa Julia ist eng mit dem Namen Jorge Téllez-Girón verbunden, der im Jahre 1526 vom portugiesischen König João III. die Order erhält, auf der Insel Santa Júlia eine kleine Festung zu bauen. Doch dazu später mehr.

Jorge war gebürtiger Spanier. Am 25.04.1494, neunzehn Minuten nach seinem Zwillingsbruder Juan, erblickte er das Licht der Welt in Osuna, als vierter Sohn des Don Juan Téllez-Girón und der Leonor de la Vega.

Die Interessen der Jungen ähnelten sich sehr. Auf der einen Seite faszinierten sie beide Literatur und Musik, aber auch für das Abenteuer und das Entdecken neuer Welten. Der Komponist und Dichter Juan del Encina war ein Freund ihres Vaters. Ein anderer guter Freund war Cristóbal Colón, der zwei Jahre vor ihrer Geburt den westlichen Seeweg nach Indien gefunden hatte und öfters in Osuna zu Besuch war.

Trotz gleicher Neigungen entwickelten sich die Jungen unterschiedlich. Juan gab sich immer mehr der schöngeistigen Interessen hin. Bei Jorge entwickelte sich der Abenteurer stärker.

Mit fünfzehn Jahren war Jorge in den spanischen Militärdienst eingetreten, auch sein Vater hatte ihn auch zu diesem Schritt gedrängt. Die Trennung von der Familie war für Jorge nicht ganz einfach gewesen. Um nicht völlig zu vereinsamen, schrieb er sich regelmäßig mit seinem Zwillingsbruder, besonders aber mit seiner Lieblingsschwester Isabel, die 3 Jahre älter war.

Ein Jahr nachdem Jorge sein Elternhaus verlassen hatte, schrieb Isabel ihm, dass sie den Grande Beltrán II. de la Cueva y Toledo kennengelernt hatte. Ihre blumigen Worte schienen Jorge erahnen lassen, dass Isabel sich verliebt hatte. Und im nächsten Brief kündigte Isabel tatsächlich eine Heirat mit dem elf Jahre älteren Beltrán an.

Die Ereignisse in Jorges Leben ließen es leider nicht zu, an der Hochzeit seiner Schwester teilzunehmen. Er lernte seinen Schwager erst zwei Jahre später kennen. Bei Jorges Besuch auf dem geräumigen Anwesen waren die beiden Männer sich sofort sehr sympathisch und verstanden sich gut. Vier Wochen verweilte Jorge bis er wieder zu seiner Truppe zurück musste. Auf dem Rückweg besuchte er aber noch seinen Bruder und seinen Vater in Osuna.

Die nächsten Jahre sollten ihn nach Italien und zu der Entscheidung für sein Leben bringen.

1510 wurde Jorge mit seiner Einheit nach Neapel verlegt, das zu diesem Zeitpunkt der spanischen Krone durch Heirat gehörte. Der Vizekönig war Ramón de Cardona. Spanien versuchte den Einfluss Frankreichs überall in Europa zurückzudrängen. Dazu schmiedeten der Papst und der spanische König die Liga von Cambrai. Die Ziele der Parteien waren recht unterschiedlich. Eigentlich ging es gegen die Franzosen, aber man verbündete sich, wie die aktuelle Lage gerade den höchsten Profit versprach. Somit blieb die Lage oft unübersichtlich.

Anfang des Jahres 1512 befand sich Jorge, inzwischen zum Adjutanten des hohen Offiziers Lope de Manrique befördert, auf dem Weg nach Oberitalien. Zusammen mit Venedig, England und päpstlichen Truppen wollte man dort die Franzosen vertreiben.

Ramón de Cardona, der Vize-König, führte die Truppen Richtung Bologna um einen Aufstand gegen den Papst niederzuschlagen. Doch unversehens traf man vor Bologna, bei Ravenna, auf französische Truppen unter der Führung des jungen, dynamischen Gaston de Foix – interessanterweise - dem Schwager der spanischen Königin. Die Spanier bezogen feste Stellung hinter einem Graben, um sich gegen die Angreifenden besser zur Wehr setzen zu können. Das gelang anfänglich auch mit Hilfe der Arkebusen und Geschütze.

Jorge konnte von Ferne das Geschehen beobachten. Seine Aufgaben als Adjutant hielten ihn vom eigentlichen Kampfgeschehen fern. Dann griffen aber französische Landsknechte an und, obwohl ihr Anführer im Kampf fiel, erzwangen sie sich den Übergang über den Graben. Es kam zu einem fürchterlichen Gemetzel auf beiden Seiten. Dann griff die französische Kavallerie über die Flanke die Spanier an, die dann zurückwichen. Damit hatte Frankreich an diesem 11. April einen Sieg errungen, den Krieg aber noch lange nicht. Zumal der Anführer Gaston de Foix gefallen war.

Am Abend lernte Jorge im Feldlager Álvar Núñez Cabeza de Vaca kennen. Die beiden Männer saßen am Feuer. Álvar stocherte mit einem Stock in der Glut, „ich weiß, das ist schon ein seltsamer Name - Kuhkopf. Aber für unsere Familie ist Cabeza de Vaca ein Auszeichnung.“

Jorge sah ihn an, „eine ungewöhnliche Auszeichnung.“

„Ja“, antwortete Álvar, „ein Vorfahr von mir hat dem König von Navarra einen strategisch günstigen Bergpass gezeigt, über den der König seine Truppen gegen die Mauern führen konnte. Um den richtigen Weg zu erkennen, war ein Kuhkopf als Erkennungszeichen angebracht. Das war vor zweihundert Jahren am Ende der Rekonquista.

So vergingen viele Abende am Lagerfeuer. Sie sprachen darüber, was sie mal machen werden, wenn sie diesen Krieg überleben würden. Álvar hatte viel von Westindien gehört und wollte eines Tages dorthin. Für ihn stand fest, dass es dort für Männer wie ihn und Jorge viel zu holen gäbe.

Das inzwischen stark dezimierte spanische Heer war weiter nach Prato marschiert und belagerte die Stadt. Als Prato Ende August 1512 aufgab und um einen gnädigen Frieden bat, konnte die Stadt erleben, was es heißt sich gegen Papst, Spanien und andere konkurrierende Stadtstaaten aufzulehnen. Angeheizt durch die entsetzliche Niederlage bei Ravenna fielen die sieges- und weintrunkenen Soldaten, in Prato ein. Die Bewohner zahlten einen unglaublich hohen Blutzoll. Die nächsten zweihundert Jahre spielte diese Stadt im Konzert der oberitalienischen Städte keine Rolle mehr.

Am späten Abend fand sich Jorge schwer verkatert auf den Stufen der Kirche von San Stefano wieder. In der Hand sein Rapier, blutverkrustet. Auf der Piazza del Duomo lagen Niedergemetzelte und vereinzelte Körperteile. Das Haus gegenüber der Kirche brannte. Davor stand ein Geistlicher mit erhobenen Armen, das Gesicht zum Himmel und laut pries laut die Gnade Gottes und Dank für den erfochtenen Sieg. Vor ihm knieten einige Soldaten der spanischen Truppen, auch Venezianer und Schweizer und beteten.

An einem Gerüst hingen mehrere besser gekleidete Männer oder das was von ihnen noch übrig war. Der Geruch von verbrannten Balken, verwesenden Leichen und Blut zog Jorge in die Nase. Langsam kam er zu sich. In dieser Stadt vor rund hundert Jahren Francesco Datini Bank- und Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Jetzt lag die Stadt in Schutt und Asche. Ihre Bewohner dahin gerafft, durchbohrt, den Schädel gespalten, aufgespießt, ermordet.

Jorge erhob sich langsam. Der Geruch von Leichen, Pulver, Feuer schmerzte in der Nase. Als er endlich stand, preschte ein Reiter vorbei, ein spanischer Offizier mit gezogenem Rapier. Er hörte Schreie, Rufe, Wehklagen und selten das Krachen einer Arkebuse. Er sah an sicher herunter. Seine Kleidung war völlig zerfetzt und überall mit Blut verschmiert. Es schien aber nicht sein Blut zu sein, „oh, Mutter Gottes, was habe ich getan?“

Er sackte erneut zusammen und saß wieder auf den Stufen. Tränen schossen ihm aus den Augen. Er wusste noch, wie sie im Feldlager Wein ausgeschenkt wurde und alle schnell und viel tranken. Er erinnerte sich auch noch, wie er mit anderen Soldaten sich auf den Weg in die Stadt gemacht hatte. Doch nachdem sie die Bresche in der Stadtmauer überwunden hatten, fehlt ihm die Erinnerung.

Er sah sich um. Der Geistliche zelebrierte weiter seine Messe mit seiner kleinen heuchlerischen Schar. Ein paar Stufen weiter unter lang eine junge Frau, breitbeinig mit zerrissenen Kleidern. Ihre zarten Brüste waren besudelt mit Blut und ihr Gesicht voller Dreck. Jorge kroch zu ihr. Sie atmete nicht. Er blickte in ihr liebliches Gesicht und unwillkürlich musste er wieder weinen, „was haben wir getan?“

Jorge stand auf, immer noch etwas wackelig. Der Kopf schmerzte. Er ging langsam los, in die Richtung in der er ein Stadttor und das Feldlager vermutete. Da sah er einen ihm bekannten Umhang auf dem Pflaster liegen. Er gehörte Lope de Manrique, dem gedient hatte. Und wenige Schritte weiter lag auch sein Besitzer – auf dem Rücken mit aufgerissenen Augen, gebrochenem Kiefer und stammelte eine Weile immer wieder das Wort „Chaxi“. Jorge sprach ihn an, doch Manrique, erkannte ihn nicht. Er blieb eine ganze Zeit neben ihm auf dem Boden sitzen. Die Tränen liefen weiter über Jorges Wangen. Dann sah er zu Manrique. Seine Augen waren geschlossen und er schien zu lächeln. Jorge deckte ihn zu. Er konnte nicht hier bleiben. Er ging verstört weiter. Immer wieder hörte er Schreie, auch schon, als er das Feldlager erreichte. Er fand einen Krug Wein und trank hastig. Das konnte er nicht ertragen. Tränen rannen ihm über die Wange. Gegen Soldaten und Söldner zu kämpfen schien ihm ehrenvoll, aber die Bevölkerung einer Stadt niederzumachen, das war Frevel. Er trank wieder einige großen Schlucke. Noch mehr Tränen traten aus seinen Augen.

Was hatte er wohl in den letzten Stunden anderen Menschen angetan. Er wusste noch, dass wieder ein neuer Belagerungstag anbrach. Doch dieser Tag begann schon anders. Er hatte mit seinem Herrn und Álvar gewürfelt und getrunken – das war während einer Belagerung Gang und Gäbe. Man vertrieb sich die Zeit zwischen den Angriffen, die zum Teil Tage oder Wochen dauern konnte. Zur gleichen Zeit gruben die Mineure einen Tunnel unter das Stadttor. Am Mittag waren sie mit ihrer tagelangen Arbeit vorzeitig fertig und schleppten dann fässerweise Schwarzpulver in den Stollen.

Die drei Männer waren schon ziemlich betrunken, als der Knall des explodierenden Schwarzpulvers die untätigen Soldaten und vor allem Bewohner von Prato hochriss. Der Erfolg war überwältigend. Selbst Ramón de Cardona hatte nicht mit einer solchen Bresche in der Mauer gerechnet. Dementsprechend waren die meisten Soldaten des Belagerungsheeres auf einen möglichen Sturm gar nicht vorbereitet – und zudem äußerst alkoholisiert. Binnen kürzester Zeit kam der Angriffsbefehl. Alles griff nach den Waffen – Angreifer und Verteidiger. Der Sturm und der Blutrausch hatten begonnen. Jorge wollte vergessen und während er erneut den Krug ansetze, viel er hinten über. Auf dem Boden liegend schlief er sofort ein.

Am nächsten Morgen beugte sich Álvar über Jorge, der in einer Lache von Blut, Wein und Erbrochenem lag, „lebst Du noch?“ Jorge öffnete langsam die Augen und stammelte ein leises „Ja“.

„Was für eine Schande“, sagte Álvar, der, jetzt aufrecht stehend Richtung Prato blickte. Rauch stieg an vielen Stellen aus der Stadt auf. Jorge setzte sich langsam auf. Álvar gab ihm ein feuchtes Tuch, womit sich Jorge das Gesicht abwusch. Er sah fürchterlich aus – dreckig und blutverschmiert.

Nach ein paar Minuten stand Jorge auf, atmete tief durch und sagte, „wenn das Krieg ist, wehrlose Männer, Frauen und Kinder abzuschlachten, dann gehe ich lieber ins Kloster.“

„Sie haben es doch nicht anders gewollt“, entgegnete Álvar.

„Ich glaube schon, dass sie es anders gewollt hätten.“

„Sie hätten sich einfach fügen sollen und ihre Stadt wäre verschont geblieben“, argumentierte Álvar. Jorge merkte schnell, dass das zu nichts führte, wandte sich ab und ging in das Zelt.

Das war für ihn ein sehr wichtiger Tag. Für Jorge war klar, dass dieses Landgemetzel nicht sein Leben war. Er wollte endlich zur See. Die Überfahrt nach Neapel hatte ihm schon gut gefallen. Er hatte für sich eine Entscheidung getroffen. Im Grunde war der Weg frei, sein Commandante war gefallen und damit hatte er vorerst keine Aufgabe. Sein Dienstherr Ramón de Cardona hatte einen Sieg war errungen. Die Gelegenheit war günstig.

Er sprach bei Ramón de Cardona vor und bat um eine Versetzung zur spanischen Armada. Ob Cardona merkte, dass dieser junge Mann nicht für den Landkrieg geschaffen war, lässt sich nicht feststellen. Cardona versprach ihm, dass er seine Versetzung veranlassen würde.

Jorge lernte schnell und der Pilot des spanischen Schiffes war sehr zufrieden mit ihm. Auch der Kapitän fand schnell Gefallen an dem wissbegierigen jungen Mann.

Als sie im Frühjahr 1513 in Cádiz ankerten, hörte Jorge, dass die Venezianer die Heiligen Liga verlassen hatten und nun auf Seite Frankreichs gegen die alten Verbündeten kämpften. Er musste an seinen Freund Álvar denken, der immer noch in Italien war. Als er am selben Abend in der Kathedrale von Cádiz betete, schloss er ihn in sein Gebet ein und bat um ein wohlbehütetes Leben.

Álvar Núñez Cabeza de Vaca wird noch lange leben. Er erfüllt sich seinen Traum in die neue Welt zu reisen, der für ihn zum fast zehnjährigen Albtraum wird. Er wird einer der wenigen Überlebenden der Narváez-Expedition sein, danach wie ein Held gefeiert werden, ein Buch darüberschreiben, Gouverneur in Paraguay werden, als erster Europäer die Iguaçu-Fälle sehen und erst mit 67 Jahren in Sevilla als armer Mann sterben. Jorge wird erst viele Jahre später von ihm und seinem Schicksal hören.

Jorges Karavelle setzte die Fahrt fort, hinaus auf den Atlantik, dann nach Norden zum Flottenstützpunkt Santander an der baskischen Küste. Am Ende des Jahres ergab sich die Möglichkeit seine Schwester Isabel in Cuéllar zu besuchen. Dort erfuhr er, dass es wieder in Italien zu einer Schlacht gekommen war, aus der die Spanier aber siegreich hervorgegangen waren.

Er stand auf einer der südlichen Veranda, die einen hervorragenden Blick über das scheinbar endlose Meer der Pinienwälder erlaubte. Er sog den unverkennbare Geruch der Pinien in seine Nase. Er musste wieder an Álvar denken und hoffte ihm würde es gut ergangen sein. Dann seufzte er und war insgeheim froh, diesem Gemetzel entkommen zu sein. Die Seefahrt war seine Berufung.

Jorge war in seiner Ausbildung gut vorangekommen. Er assistierte dem Piloten und durfte schon selbst Messungen mit dem Astrolabium und einem wesentlich einfacheren Instrument, dem Jakobsstab machen. Das Instrument erinnerte ein wenig an den Wanderstab der Pilger auf dem Jakobsweg, daher der Name. Es bestand aus einem fast armlangen, geraden Stab mit einer Skala und aus einem kleinen, beweglichen Querholz, das nur zwei Handbreit maß. Man hielt das eine Ende des Stabes an das Auge, peilt ungefähr den Punkt zwischen anvisiertem Objekt und Horizont an und bewegte das Querholz auf dem Stab so lange, bis der Horizont in einer Linie zur unteren Kante des Querholzes liegt und das Objekt an der oberen Kante gerade verdeckt ist. Auf der Skala liest man dann den Winkel ab. Mit etwas Mathematik kann man auch Entfernungen oder Höhen bestimmen. Jorge war fasziniert und die Bestimmung von Winkeln. Es machte ihm einen solchen Spaß, dass er seinem Jakobsstab immer mit sich trug. Auf dem Schiff nannte man ihn schon spöttisch „Jakob“.

In einem ihrer Briefe berichtete Isabel, dass Jorge nun das dritte Mal Onkel geworden war. Im Juni 1515 hatte der kleine Gabriel das Licht der Welt in Cuéllar erblickt. Er sei ein echter Girón und sah, so Isabel, wie der kleine Jorge aus. Als Gabriel zwei Jahre alt wurde, kam ihn endlich sein Onkel besuchen.

Jorge hatte in den vier Jahren, seit er in Neapel das Schiff bestiegen hatte, alle Voraussetzungen und Fähigkeiten erworben, um eine Anstellung als Pilot zu erhalten. Er wollte aber, bevor er die Verantwortung über ein Schiff übernehmen sollte, einmal mit einem erfahren Piloten in die neue Welt gefahren sein.

Diese Gelegenheit ergab sich, nach dem er aus Cuéllar nach Santander zurückgekehrt war. Die Casa de Contratación war die spanische Zentralbehörde für den gesamten Handel mit und in die überseeischen Kolonien. Das spanische Gegenstück zur portugiesischen Casa da Índia Auch hier organisierte man die Fahrten, rüstete die Schiffe aus, heuerte Mannschaften und Offiziere an, kümmerte sich um alle Belange der Reise. Über sie liefen auch alle Geschäfte mit den Waren, die aus den Kolonien kamen, sowie deren Besteuerung. Alles wurde akribisch festgehalten und dokumentiert. In einer Außenstelle der Casa de Contratación in Santander heuerte Jorge als zweiter Pilot eines Schiffes in einem kleinen Geschwader an. Mit der Mafalda sollte er das erste Mal in die neue Welt reisen. Sie ankerte in der Bucht vor der Stadt und wurde über kleine Boote versorgt und beladen.

Der Auftrag der Mafalda bestand darin, mit ein paar anderen Schiffen eine kleine Flotte von silberbeladenen Schiffe über den Atlantik nach Spanien zu eskortieren und vor eventuellen Angriffen zu schützen. Das System, der zweimal im Jahr zusammengestellten, Silberflotten wurde erst rund fünfzig Jahre später erfunden, als die Anzahl der Überfälle auf spanische Schiffe deutlich zunahm.

Für die Reise wurde Schiffszwieback, grobes Roggenbrot, Stockfisch, Salzfleisch, Olivenöl und Wein geladen, aber auch frisches Gemüse und Obst, was leider schneller verdarb, als man es verzehren konnte. Gefährlich waren nicht nur die Reise an sich, sondern auch die Krankheiten durch Vitamin-C-Mangel. Dies war ein Grund, warum die Seereisen vornehmlich entlang der Küste unternommen wurden. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchte der Pilot die Vorräte an Trinkwasser, frischem Obst und Gemüse aufzufüllen. Besonders schwierig wurde es, wenn man einen Ozean überqueren musste und eine Flaute die Fahrt deutlich verzögerte. Durch Skorbut hatte Vasco da Gama zehn Jahre zuvor zwei Drittel seiner gesamten Mannschaft verloren.

Ein weiteres großes Problem für die Schiffe, die in die Karibik fuhren, war der Schiffsbohrwurm. Zwar war seine Existenz und Auswirkung grundsätzlich bei den Seefahrern bekannt und berüchtigt, aber hier hatte man es mit einem deutlich aggressiveren Exemplar zu tun. Aus dem Grund hatte vor einigen Jahren König Ferdinand II. von Spanien erlassen, dass alle Schiffe, die in die neue Welt fahren, mit einem metallbeschlagenem Rumpf ausgestattet sein müssen.

Hier hatte Spanien aus der Geschichte gelernt. Cristóbal Colón hatte auf seinen Fahrten mehrere Schiffe verloren. Die Mafalda war eines der wenigen, älteren Schiffe, die nachträglich mit einem Kupferrumpf ausgestattet worden war.

Um Atlantik zu überqueren, also um nach Westen zu kommen, muss man erst nach Süden, bis zu den Kanarischen Inseln segeln, von dort treiben einen die vorherrschenden Winde und Strömungen, wie von alleine über den Ozean. In Santa Cruz de Tenerife wurde noch einmal ein paar Tage Pause gemacht, die Vorräte aufgefüllt, bis man dann bei gutem Wind die Überfahrt wagte.

Jorge war mit der Mafalda fast zwei Jahre unterwegs. Er lernte sehr viel von dem ersten Pilot, der ein erfahrener Seemann war. Er hatte Santo Domingo gesehen, ein winziges Städtchen auf der Insel Hispaniola. Sie waren in Havanna gewesen, das erst im Jahr zuvor gegründet worden war. Ein paar Jahre später werden die Einwohner die Ortschaft wegen einer Insektenplage aufgeben und an der Nordküste Kubas, die man damals Isla Fernandina nannte, ein neues Havanna gründen.

Jorge lernte bei einem Empfang in Santiago de Cuba den Gründer vieler Städte auf Kuba kennen, Diego Velázquez de Cuéllar. Er war ein sehr ehrgeiziger Mann. Nicht minder sein Sekretär, der Hernán Cortés hieß. An diesem Abend wurde Jorge von Cortés angesprochen. Er plane im nächsten Jahr eine größere Unternehmung und suchte noch Mitstreiter. Vom Krieg und den Massakern hatte Jorge genug, lies Cortés eine Weile noch ausführen, doch lehnte dann dankend ab. Seine Berufung sei die See und bei jeder Fahrt würde ihm deutlicher, dass das seine Bestimmung ist.

Im September 1519 gab Jorge, inzwischen erster Pilot der Mafalda, den Befehl zum Anker werfen. Das war in der Bucht vor Cádiz. Der Kapitän war auf der Rückreise einem heftigen Fieber erlegen und der erste Pilot hatte die die Führung der kleinen Flotte übernommen, die man aus Mittelamerika eskortiert hatte.

Beim Entladen der Schiffe hatte Jorge noch alle Hände voll zu tun. Die Tonnage der, doch eher klein wirkenden Schiffe des 16. Jahrhunderts war erstaunlich. Zudem man sich bei dem Transport von Schätzen aller Art – hier vor allem Silber – auch den letzten freien Platz füllte.

Für die erfolgreiche Überfahrt bekam auch Jorge einen Anteil. Dieser versetzt ihn in die Lage, dass er sich Zeit nehmen konnte, seine Familie zu besuchen - allen voran Isabel und Beltrán.

Nach ein paar Wochen beschwerlicher Reise erreichte er das Castillo de Cuéllar. Als er den Innenhof betrat waren, wie bei seinen Besuchen zuvor Handwerker mit Bauarbeiten beschäftigt. Durch das Hämmern und Klopfen, aber auch durch den Staub, hindurch vernahm er eine rufende Stimme. Gleichdarauf konnte er seine Schwester an einem der Balkons ausmachen, neben ihr, zwei kleine Kinder.

Isabel schloss ihn in die Arme und stellte ihm dann die beiden dunkelhaarigen, fröhlichen Jungen vor, Francisco und Gabriel. Beltrán trat hinzu und nahm ebenfalls seinen Schwager in die Arme.

„Erzähl‘ uns, wie es Dir ergangen ist“, bat Isabel, die in einem bequemen Sessel Platz genommen hatte. Jorge berichtete von seiner Reise in die neue Welt und seine Erlebnisse auf Hispaniola. Der ältere Francisco lausche begierig den Ausführungen seines Onkels. So verging der Nachmittag dieses Spätsommertags wie im Flug.

An einem der letzten warmen Abende saßen Beltrán und Jorge auf der überdachten schmalen Terrasse der Burg, genossen den hiesigen Wein und den Ausblick über die weiten Pinienwälder.

„Du hast Gefallen an der See gefunden“, sagte Beltrán.

„Ja“, antwortete Jorge und seufzte leise, „die Erlebnisse in Italien waren schrecklich. Aber auf dem Meer ist alles so friedlich, selbst wenn der Sturm peitscht und Du flehst unseren Herrn Jesus um Gnade. Selbst dann ist es nicht so entsetzlich wie in Prato. Das war Frevel!“

„Die Lage wird auch nicht übersichtlicher in Italien. Manchmal weiß man gar nicht, ob die Verbündeten wirklich noch Verbündete sind. Sei froh auf dem Meer zu sein und vor allem in der Neuen Welt ist vieles einfacher. Was hast Du als Nächstes vor.“

„Im April werde ich Cádiz erwartet. Vielleicht erhalte ich eine Stelle als erster Pilot. Aber irgendwann hätte ich doch gerne ein eigenes Kommando. Aber es ist schwierig für einen wie mich. Meine Familie ist nicht von hohem Adel“, sagte Jorge und nahm einen Schluck aus seinem Kelch.

„Es gibt genügend junge Adlige, die sich einen Namen machen wollen und dem König Bittbriefe schicken, er möge ihnen ein Kommando geben“, erwiderte Beltrán.

„Ja, nur die seemännische Unerfahrenheit ist eine Gefahr für die gesamte Unternehmung. Das habe ich auf meiner letzten Reise feststellen müssen. Es wäre besser, wenn der Kapitän ein Seemann wäre. Den gleichen Fehler macht aber auch der portugiesische König.“

Beide schwiegen kurz, dann sagte Beltrán, „wäre das nicht was für Dich?“

„Was“, fragte Jorge interessiert.

„Ein Kommando auf einem portugiesischen Schiff.“

„Beltrán, Deine Fürsorge ist gut gemeint, aber selbst in meinem Heimatland, wo ich wenigstens ein angesehener Mann bin, habe ich keine Aussicht. Wie soll es dann erst in Portugal sein?“

„Eben, das könnte Deine Gelegenheit sein, Jorge!“

Jorge sah ihn immer noch fragend an. Beltrán bemerke, dass sein Gegenüber noch nicht verstanden hatte, worauf er hinaus wollte.

„Du bist zwar nicht von hohem Adel, aber ein hervorragender Navigator und Pilot. Beweise in den nächsten Jahren Dein Können.“ Beltrán nahm einen Schluck Wein und fuhr fort, „der König von Portugal sucht immer erfahrene Navigatoren.“

In den nächsten Tagen und Wochen unterhielten sich die beiden Männer noch öfter über diese Idee.

Irgendwann hatte sich Jorge Federn, Tinte und Pergament besorgt. Er schrieb tagelang über Italien, die neue Welt und die Faszination der Seefahrt.

Die Zeit des Jahres verging und es wurde kalt. Wenige Tage vor Weihnachten fiel Schnee. Am Tage nach Dreikönigen brach Jorge auf nach Osuna. Er wollte seinen Vater und seine Brüder besuchen. Osuna lag auf dem Weg nach Cádiz. Zum Abschied übergab er Isabell, das was er geschrieben hatte mit der Bitte es gut zu verwahren. Vielleicht bräuchte er es eines Tages um seine Lebenserinnerungen zu schreiben. Isabell nahm die Papiere an sich.

Einen guten Monat war Jorge unterwegs vom Cuéllar im Norden Spaniens, bis nach Osuna in Andalusien. Hier traf er an einem Februarnachmittag ein. Seine Familien hatte er schon sehr lange nicht mehr gesehen. Hin und wieder hatte Jorge einen Brief geschrieben und besonders seinen Zwillingsbruder darüber informiert, wie es ihm so ergangen war.

Eines Abends, sie saßen am Kamin, weihte Juan Jorge in seine Pläne ein, „das Wichtigste ist Bildung, Jorge! Ich würde gerne eine Lehrstätte hier in Osuna erreichten. Vielleicht eine Universität in der Kunst, Rechtswissenschaften und Medizin gelehrt würde. Das ist mein Traum, Jorge.“ Juan führte aus, wie er sich die Gebäude vorstellte und wie der Lehrbetrieb aussehen würde. Jorge machte den Vorschlag auch Mathematik zu lehren.

Keiner von beiden konnte ahnen, dass Juan in etwa fünfzehn Jahren die Mittel und die Möglichkeiten haben würde, seinen Traum in die Tat umzusetzen. Kurz nach ihrem Vater wird ihr ältester Bruder sterben und Juan wird der Vierte Graf von Osuna werden. Die Universität wird über die Landesgrenzen bekannt werden, nicht nur positiv. Es wird später heißen, dass hier „zivile Simonie“ herrscht.

Anfang April steht Jorge im Kontor der Casa de Contratación in Cádiz. Er erhält widererwartend ein Kommando als erster Navigator auf einem Transportschiff. Die nächsten vier Jahre fährt er vornehmlich auf dem Mittelmeer, die Strecke Cádiz – Valencia – Palma de Mallorca – Cagliari – Neapel, und hin und wieder ein Abstecher nach Palermo und Messina. Sein Schiff, die San Mario transportierte meist Waffen und Versorgungsgüter nach Neapel und landwirtschaftliche Erzeugnisse zurück nach Spanien. Mehrere Male brachte die große Karavelle sogar Soldaten von Valencia nach Neapel. Die Kämpfe, die sich Spanien und Frankreich, aber auch die norditalienischen Stadtstaaten in Norditalien lieferten, waren 1521 wieder erneut entbrannt. Jorge konnte über seinen alten Freund Álvar herausfinden, dass er immer noch in irgendeinem spanischen Regiment kämpfte.

Anfang des Jahres 1525 erreicht ihn ein Brief von seinem Schwager. Beltrán schlug vor, seinen Dienst zu quittieren und nach Cuéllar zu reisen. Es gäbe gute und wichtige Neuigkeiten. Im Sommer, nach einem weiteren Transport nach Sizilien, machte sich Jorge auf den Weg nach Nordspanien. An einem Augustnachmittag kam er in Cuéllar an.

Beltrán war für ein paar Tage verreist und so stieg für Jorge die Spannung, was es für Neuigkeiten gab, fast ins Unermessliche.

Die beiden Jungen baten ihren Onkel immer wieder von seinen Erlebnissen auf See zu berichten. Besondere Freude machten ihnen die Berichte aus der neuen Welt. Der fünfzehnjährige Francesco interessierte sich besonders für Navigation und sog die Berichte Jorges wie ein trockener Schwamm auf. Der zeigte ihm die Verwendung des Jakobstabes und wie man Entfernungen errechnen konnte. An einem Tag standen sie im Innenhof und vermaßen die Höhe der Stockwerke. Nachher überprüften Sie ihre Ergebnisse mit Hilfe eines Lots. Francesco war begeistert. Und sehr detailreich musste Jorge ihm die Manöver beim Segelsetzen oder beim Ablegen im Hafen erklären.

Nach einigen Tagen kehrte Beltrán zurück, nahm seinen Schwager in dem Arm und sagte nur, „Neuigkeiten, mein Freund.“

Als sie etwa eine Stunde später zu Tisch saßen, eröffnete Beltrán, „ich habe mit einem Mann gesprochen, der am portugiesischen Hofe Einfluss hat. Der junge König João von Portugal sucht, wie sein Vorgänger, gute Navigatoren. Ich rate Dir gehe nach Lissabon. Am Hafen liegt das Gebäude der Casa da Índia. Wende Dich dort an João de Barros. Er ist erst seit einem Monat aus Elmina zurück und ist Schatzmeister in der Casa da Índia.“ Beltrán reichte ihm ein gesiegeltes Dokument, „übergib ihm dieses Schreiben. Er hat Verwendung für einen guten Piloten.“

Jorge war überrascht, „das ist mehr, als ich gehofft habe.“

„Du solltest aber bald aufbrechen und Dich in Lissabon einfinden. Barros ist mit dem König von Portugal seit seinen Kindertagen freundschaftlich verbunden.“

„Wie soll ich Dir danken, Beltrán?“

Beltrán nickte und sagte, „vielleicht wird der kleine Francesco auch mal ein so guter Pilot, wie Du. Er kennt sich auf Schiffen ja schon bestens aus. Und für Dich tue ich das gerne, lieber Schwager.“

Schon Ende September erreichte Jorge Lissabon. Er lief über den weiträumigen Platz, dem Terreiro do Paço, auf die Casa da Índia zu. Der Platz war von drei Seiten von Gebäuden begrenzt. Auf der vierten Seite, gegenüber des Palastes des portugiesischen Königs, öffnete sich der Platz zum Tejo - der breite Fluss, der nach wenigen Kilometern ins Meer mündet. Neben Verkaufsständen befand sich auf dem Platz auch die Richtstätte und eine Werft in der gerade zwei Schiffe überholt wurden. Ein ungewöhnlich freier Raum, in der sonst beengten, fast schon verbauten Stadt und deren Häuser sich aneinander schmiegten. Jorge war froh wieder in der Nähe des Meeres zu sein. Der Wind trug die salzige Luft des Atlantiks herüber. Sie vermischte sich mit den Gerüchen an den Ständen. Ein unablässiges Hämmer und Sägen, das Feilbieten der Waren und die Schreie der Möwen drangen an sein Ohr.

Vor dem Eingang der Casa da Índia standen zwei Soldaten und hielten Wache. Ein Offizier, der dazu gerufen wurde, sah sich das Siegel des Empfehlungsschreiben an und las die kurze Notiz, die Beltrán in Portugiesisch darauf geschrieben hatte. Der Offizier sah Jorge misstrauisch an und brummelte, „ich lasse Euch in Begleitung passieren. Es sind zu viel Gesindel in der Stadt.“ Einer der Soldaten vom Eingang bekam eine Anweisung von dem Offizier auf Portugiesisch, die Jorge aber nicht verstehen konnte und wohl auch nicht sollte. Der Soldat ging in Innere und wies Jorge an ihm zu folgen. Er lief hinter einem Soldaten her, bis dieser in der Mitte eines Ganges vor einer massiven Holztür stehen blieb. Hier stand wieder ein Bewaffneter. Nach einem energischen Klopfen öffnete er die Tür. Jorge betrat nach der Wache den großen Raum. Hinten, an der Fensterreihe standen mehrere Tische mit Büchern und losen Dokumenten. Hohe Regalwände umgaben den gesamten Raum. Sie quollen fast über von Büchern, Kladden und ungeordneten Dokumentenstapeln. Ein Mann mittleren Alters kam auf ihn zu. Jorge sprach nicht sonderlich gut Portugiesisch, aber als ihn der Mann auf Spanisch ansprach, war Jorge deutlich entspannter, „was kann ich für Euch tun?“

Jorge gab ihm sein versiegeltes Dokument. Die Wache stand immer noch sehr misstrauisch neben ihm und verfolgte die Übergabe des Dokuments, das Erbrechen des Siegels und den Vorgang des Lesens. Als der Mann auf sah und der Wache nickte, schlug seine Mine um in pure Freundlichkeit. Die Wache löste den Griff am Heft seines Rapiers, trat einen Schritt zurück, senkte das Haupt, wandte sich um und schritt Richtung Tür. Das Quietschen der Tür und das anschließende deutliche Klacken der Falle, machte Jorge klar, dass die Wache den Raum verlassen hatte.

Der Mann sah ihn an, „Ihr seid Jorge Téllez-Girón?“

„Ja, Herr“, antwortete Jorge förmlich.

„Ich bin João de Barros. In dem Schreiben werdet Ihr mir von Beltrán de la Cueva empfohlen.“

„Das ist mein Schwager.“

Barros nickte und fragte, „Ihr seid schon in die neue Welt gereist?“

„Ja, vor einigen Jahren war ich auf Hispaniola.“

„Kennt Ihr die Küste Afrikas?“

„Nein, leider nicht. Aber Portugal hat die besten Seekarten, für einen guten Piloten sollte das keine Schwierigkeiten bereiten.“

„Und Ihr seid ein guter Pilot“, fragte Barros nach.

„Ich fahre über zwölf Jahre zur See. Seit der Rückfahrt von Hispaniola führe ich Karavellen als Pilot“, antwortete Jorge.

„Wo seid Ihr gefahren?“

„In den letzten Jahren zwischen Spanien und Italien. Valencia, Palma, Neapel. Auch Palermo und Messina bin ich angelaufen.“

João de Barros Nicken interpretierte Jorge als wohlwollend. Barros war wortlos zu einem der Tische gegangen und winkte Jorge heran.

„Seht hier“, sagte Barros und zeigte auf eine sichtlich frisch erstellte Karte, „hier liegt die Insel Santa Júlia.“


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Eingestellt: 25.07.2014
Geändert: 25.07.2014
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